Gedichte & Lebensweisheiten
Gedichte von Rainer Maria Rilke
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- Zuletzt aktualisiert: Montag, 08. Juli 2019 16:29

Vor dem Sommerregen
von Rainer Maria Rilke
Auf einmal ist aus allem Grün im Park
man weiß nicht was,
ein Etwas, fortgenommen;
man fühlt ihn näher an die Fenster kommen
und schweigsam sein.
Inständig nur und stark
ertönt aus dem Gehölz der Regenpfeifer,
man denkt an einen Hieronymus:
so sehr steigt irgend Einsamkeit und Eifer
aus dieser einen Stimme, die der Guß erhören wird.
Des Saales Wände sind mit ihren Bildern
von uns fortgetreten,
als dürften sie nicht hören was wir sagen.
Es spiegeln die verblichenen Tapeten
das ungewisse Licht von Nachmittagen,
in denen man sich fürchtete als Kind.
Jeder Tag ist der Anfang des Lebens,
jedes Leben der Anfang der Ewigkeit.
Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
-
Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
und sagt: Ich bin.
Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
hat keinen Sinn. -
Da musst du wissen, dass dich Gott durchweht
seit Anbeginn,
und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,
dann schafft er drin.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
- Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.
Dein großer Mantel lässt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange -
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß.
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.
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